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Ein Fachgespräch über die Bedarfe von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in der WG Charlottenburg

02.02.2018 | Der Austausch um Erfahrung und Wissen hat in der DASI Berlin einen hohen Stellenwert. Ein etabliertes Symposium hierfür bietet das monatlich stattfindende Fachgespräch zu pädagogischen Themen. Seit nunmehr zehn Jahren wird diese Gelegenheit rege von den DASI-Mitarbeitenden genutzt: Um neue Impulse und Wissen zu erhalten, aber auch, um sich mit den Kollegen und Kolleginnen aus den anderen Bereichen fachlich zum Thema auszutauschen.

Das erste Fachgespräch in diesem Jahr widmete sich einer neuen Angebotsform der DASI Berlin. In den beiden integrativen Wohngemeinschaften leben unbegleitete minderjährige Jugendliche (UmF) mit Jugendlichen zusammenleben, die in Deutschland aufgewachsen sind. Aufgrund von (Bürger-)Krieg waren die meist syrischen Jugendlichen gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Die Wohngemeinschaften und deren pädagogisches Fachpersonal geben den Jugendlichen einen Raum zum Ankommen, zum Verarbeiten und zum Wachsen.

Zum Beginn des Fachgesprächs umriss Herr Jung, der Geschäftsführer der DASI Berlin, die Diskussion, die 2015 zum Umgang mit Menschen mit Fluchthintergrund geführt wurde. Unser Anspruch: Hilfebedürftigen Menschen, vor allem jungen Menschen, soll mit größtmöglicher Sorgfalt und Professionalität begegnet werden. Wir orientieren uns dabei an basalen Prinzipien Sozialer Arbeit und legen den Schwerpunkt auf die Ausgestaltung und Stabilität der Beziehungen zu den jungen Menschen.

Besonders diese Beziehungsarbeit hob Frau Saidykhan, die das Fachgespräch leitete, hervor:  Eine tragfähige Arbeitsbeziehung sei und bleibe in der Zusammenarbeit mit den Jugendlichen das zentrale Element einer gelingenden Sozialpädagogik – und dabei auch die größte Herausforderung. Die ausgebildete Sozialpädagogin mit einer Zusatzausbildung zur Systemischen Beraterin bzw. Systemischen Kinder- und Jugendtherapeutin hat in ihrer 18-jährigen Berufserfahrung viel Erfahrung auf dem Gebiet der Traumabewältigung gesammelt. Seit Februar 2018 hat sie die Leitung des DASI-Bereichs Jugendwohnen Charlottenburg-Wilmersdorf übernommen, zu der auch die WG Charlottenburg gehört.

Frau Saidykhan begann ihr Fachgespräch mit einer Darstellung des „seelischen Gepäcks“, mit dem die Jugendlichen in der Wohngemeinschaft ankommen. Neben den (traumatisierenden) Kriegserfahrungen und den Folgen eines Aufwachsens in einem Unterdrückungssystem, kommen meist noch die Fluchterfahrung und die Trennung von den Familien als belastende Faktoren hinzu. Meist brauchen die jungen Männer eine Zeit, um zur Ruhe zu kommen. Schienen sie zunächst als besonders tough, stark und belastbar, bröckelt diese Fassade oft, wenn die verdrängten Emotionen an die Oberfläche kommen. Die Aufgabe unserer Mitarbeiter*innen besteht darin, in diesen Momenten da zu sein und gemeinsam auszuhalten, ohne dabei die eigene Psychohygiene zu vergessen.

In diesem Spannungsfeld zwischen Beziehungsarbeit und Abgrenzung sieht Frau Saidykhan eine der größten Herausforderungen für ihre Mitarbeitenden. Gemeinsam befindet sich das Team in einem stetigen Reflexionsprozess, um sich von den Erfahrungen und Stimmungen der Adressaten nicht überwältigen zu lassen und um damit der Gefahr, in eine Handlungsunfähigkeit zu rutschen, vorzubeugen. Die Mitarbeitenden müssen sich klar gegenüber all den äußeren Ansprüchen, wie z.B. vom Jugendamt, positionieren. Im Mittelpunkt steht der Jugendliche mit seinen Bedarfen. Für seine Entwicklung ist es essentiell, dass die Mitarbeiter*innen ein positives Klima in der Wohngemeinschaft schaffen und ihn in dieser Stimmungslage abholen.

Stuhlkreis Kopie

Wahrnehmungsübung

Mit einer Wahrnehmungsübung versuchte Frau Saidykhan während des Fachgesprächs hier die Wichtigkeit der Selbstreflexion als Schutzmechanismus vor Überforderung darzustellen. Die DASI Berlin legt sehr viel Wert darauf, dass ihre Mitarbeitenden durch verschiedene Angebote, Raum zur Entlastung erhalten. So wird in allen Bereichen regelmäßig Supervision durchgeführt. Auch in den Teamsitzungen gibt es regulär Zeitfenster, um in Fallbesprechungen oder durch eine „Kollegiale Beratung“ neue Impulse für die Arbeit zu erhalten.

In der Wohngemeinschaft sind neben der Bewältigung der erlebten Traumata auch unterschiedliche Werte- und Erziehungserfahrungen ein Arbeitsschwerpunkt. Die Schwierigkeit besteht darin, ein angemessenes Verhältnis von Klarheit, Struktur, Orientierung und freier Entwicklung zu schaffen, damit es den jungen Männern möglich ist, eigene Lebensperspektiven zu entwickeln. Viele minderjährige männliche Jugendliche haben bereits gearbeitet und ihre Familien (mit-)versorgt. Autorität ist oft nur vom Vater anerkannt und zugelassen. In Deutschland sind sie mit Erwartungen und Lebenskonzepten konfrontiert, die manchmal  irritierend auf die Jugendlichen wirken. Frau Saidykhan bestätigt, dass das Einhalten von Regeln, z.B. das Rauchverbot und die Putzämter, im WG-Alltag wiederkehrende Themen sind. Kochen und Putzen wurden in der Kultur des Heimatlandes der Herkunftsfamilie i.d.R. ausschließlich von den weiblichen Familienmitgliedern erledigt. Dass die Jugendlichen nun selbst diese Tätigkeiten verrichten müssen, spielt auch im WG-Alltag eine große Rolle.

Der hohe therapeutische Bedarf kann derzeit aufgrund nicht ausreichender  Therapieplätze in Berlin nicht gedeckt werden. Insbesondere traumatherapeutische Therapieplätze und Sprachmittler sind rar. Jedoch ist die Entwicklung einer geregelten Tagesstruktur mindestens genauso wichtig für die Jugendlichen, um sich im Rahmen des betreuten Settings stabilisieren zu können. Wichtig für eine gelingende Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitenden und den Jugendlichen ist oft der Faktor Zeit: Zeit zum Ankommen, Orientieren, Kennenlernen, Ausprobieren, sicher fühlen, Hinterfragen, Scheitern, Stabilität erleben.

(nm, ks + lg)